Soziale Einbindung und zwischenmenschliche Erfahrungen sind für viele Studierende ein wichtiger Teil des Lernprozesses. Dennoch werden diese Aspekte in der Online- und Fernlehre noch oft vernachlässigt, sodass das Lernen von Alleingängen und relativer Isolation gekennzeichnet sein kann. In diesem Blogbeitrag werden wichtige Konzepte und neue Erkenntnisse im Zusammenhang mit „Social Presence“ und sozialer Interaktion zwischen Studierenden erläutert. Zudem wird ein Ansatz aufgezeigt, wie man Online- und Fernlehre persönlicher und sozialer gestalten kann.
Dieser Blogpost basiert auf der kürzlich veröffentlichten Studie: Weidlich, J., & Bastiaens, T. J. (2017). Explaining social presence and the quality of online learning with the SIPS model. Computers in Human Behavior, 72, 479–487. [Kostenloser Link bis 29. April 2017]
Was ist Social Presence?
„Social Presence“ ist ein Konzept, das bereits seit Längerem im Zusammenhang mit computergestützter Kommunikation, aber auch Online- und Fernlehre untersucht wird. Der Begriff wurde bereits 1976 von Short, Williams & Christie geprägt und in den folgenden Jahrzehnten weiter ausgearbeitet.
Social Presence bezeichnet das Gefühl, dass sich in der Kommunikation und beim Lernen mit Anderen, trotz der räumlichen Trennung und der wenigen Informationen, die man über andere Online-Lerner oftmals hat, dennoch ein Gefühl der Nähe und des Kennens einstellen kann. Manche nennen es „the illusion of non-mediation“, also das Gefühl, dass man in authentischer Weise und nicht über ein Medium kommuniziert. Obwohl sich Forscher bislang noch nicht sicher sind, inwieweit sich dieses Phänomen tatsächlich auf den Lernerfolg auswirkt, gibt es dennoch bereits viele Befunde, die darauf hinweisen, dass Studierende Social Presence als etwas Positives empfinden. Es ist ein klassischer Befund, dass diejenigen, die eine hohen Grad an Social Presence empfunden haben, auch größere allgemeine Zufriedenheit mit dem Lehr/Lernszenario angeben.
Ein kurzes Video zur Einführung zum Thema Social Presence finden Sie hier.
Für besonders Interessierte: Es gibt gute Einführungen zum Thema Social Presence von Lowenthal, 2009 und Cui, Lockee, & Meng, 2013.
Social Presence in der Online- und Fernlehre
Online- und Fernlehre stehen seit jeher vor dem Problem hoher Drop-Out-Quoten und geringer aktiver Beteiligung der Studierenden (Allen & Seaman, 2013), sodass auch ambitionierte didaktische Konzepte oftmals hinter den Erwartungen zurückbleiben oder gar nicht erst umgesetzt werden. Die Vermutung liegt also nahe, Social Presence als wichtigen Faktor zur Bekämpfung dieser Probleme von Online- und Fernlehre zu betrachten. Die naheliegende Vermutung ist: Wenn Studierende sich stärker sozial eingebunden fühlen, bleiben Sie länger am Ball und zeigen größere Beteiligung an den Aktivitäten in den Kursen & Modulen.
Bedeutung von affektiven Verbindungen und dem „Wir“ Gefühl
In obigen Artikel argumentieren wir, dass Social Presence zwar aus verschiedenen Gründen erstrebenswert sein kann, es allerdings nur die halbe Miete ist. Dabei beziehen wir uns auf wichtige theoretische Vorarbeiten zu diesem Thema (z.B. Kreijns 2014). Das Gefühl von sozialer Eingebundenheit eines Lerners mit seinen Kommilitonen geht über Social Presence hinaus, in dem tatsächliche affektive Verbindungen zwischen Lernenden betrachtet werden. Wenn Lernende eine affektive Verbindung zu anderen empfinden, ist das soziale Einbindung. Man könnte es auch als ein „Wir“-Gefühl bezeichnen (in der Literatur heißt das „Social Space“).
Social Presence ist dafür lediglich ein erster, vorläufiger Schritt. Eine persönliche Verbindung zu seinen Kommilitonen kann man zwar erst aufbauen, wenn man das Gefühl hat, sie etwas zu kennen. Aber nur weil man jemanden über den Lauf eines Semesters kennenlernt, muss sich nicht auch zwingend eine persönliche Verbindung einstellen. Ein zentrales Argument des Artikels ist daher, dass Social Presence zwar aus verschiedenen Gründen wichtig sein mag, die Erwartungen die damit verknüpft werden, allerdings überzogen sind. Man kann das in einem einfachen gedanklichen Experiment nachvollziehen: Würde es meine Zufriedenheit erhöhen, wenn ich meine Kommilitonen zwar kennenlerne und das Gefühl habe persönlich mit Ihnen zu kommunizieren, aber mit Ihnen nichts anfangen kann, es also keine persönliche Verbindung gibt? Wir vermuten, dass dies nicht der Fall ist und die Daten der Studie stützen diese Vermutung. So stellen wir fest, dass vor allem persönliche Verbindungen zu den Kommilitonen die Zufriedenheit mit dem Kurs oder dem Modul erhöht, das reine Empfinden von Social Presence reicht dazu noch nicht aus.
Was bedeutet das für die Gestaltung von Online- und Fernlehre?
Daher stellt sich die Frage: Wie kann diese soziale Einbindung begünstigt werden? Wie schaffe ich es, als Lehrperson oder als Gestalter von Online- und Fernlehre, dass Lernenden dieses „Wir“-Gefühl empfinden?
Man könnte versuchen, diese affektiven Verbindungen direkt und gewissermaßen künstlich herzustellen, z.B. durch Kennenlern-Spiele und Vorstellungsrunden. Diese Aktivitäten sind bewährt und werden daher auch oft zu Beginn des Semesters genutzt. Diese Bemühungen sind allerdings wenig effektiv, wenn über den weiteren Verlauf des Semesters keine soziale Interaktion zwischen Studierenden angeregt wird. Stattdessen sollte ein reger Austausch zwischen Studierenden regelmäßig und über das gesamte Semester hinweg stattfinden, damit sie sich nicht nur kennenlernen, sondern auch eine persönliche Verbindung entstehen kann. In der Studie argumentieren wir für eine indirekte Herangehensweise (wir nennen es „ecological approach“). Das heißt, die Lernumgebung (z.B. das LMS Moodle) sollte selbst Eigenschaften aufweisen, die die gewünschten Prozesse begünstigen und unterstützen. Da wir davon ausgehen, dass die soziale Interaktion zwischen Lernenden ein wichtiger Faktor ist um:
(1.) einen Eindruck seiner Kommilitonen zu gewinnen (Social Presence) und
(2.) positive affektive Kommunikation und persönliche Verbindung („Wir“-Gefühl, Social Space) zu erreichen,
plädieren wir für Lernumgebungen mit spezifischen kommunikationsrelevanten Eigenschaften. Die Daten der Studie stützen die Vermutung, dass eine entsprechend gestaltete Umgebung einen Einfluss auf die soziale Interaktion und demnach auch auf Social Presence und das „Wir“-Gefühl hat. Untenstehende Grafik visualisiert diesen Zusammenhang:
(Eigene Darstellung, abgewandelt von Weidlich & Bastiaens, 2017)
Soziale Netzwerke als Orientierung
Soziale Netzwerke (z.B. Facebook, LinkedIn, ResearchGate etc.) können hier Vorbilder sein, da sie sozusagen Experten auf dem Gebiet sozialer Interaktion sind. So könnte z.B. eine einfache Chat-Funktion, die spontane, informelle Kommunikation erlaubt, den Austausch und das Kennenlernen erleichtern. Ebenso dürfte es leichter sein, einen Eindruck meines Gegenübers zu gewinnen, wenn ich ein Profilfoto dieser Person sehen oder etwas über ihre Interessen erfahren kann. Wenn ich mitkriege, woran einer meiner Kommilitonen gerade arbeitet, und dass er möglicherweise dieselben Schwierigkeiten hat wie ich, dann fühle ich mich ebenso weniger alleine beim Lernen. All dies kann erreicht werden, in dem ich die Online-Lernumgebung mit neuen „sozialen“ Funktionalitäten versehe. Die Idee ist: Wenn es mehr Möglichkeiten gibt, die Persönlichkeiten und Aktivitäten anderer Lernenden wahrzunehmen und mit Ihnen in Interaktion zu treten, ob nun auf der inhaltlichen Ebene oder eben auch auf der persönlichen Ebene, werden Studierende diese auch benutzen, wenn Ihnen der soziale Kontakt und das „Wir“-Gefühl im Lernen fehlt.
Es versteht sich, dass eine Lernumgebung, so sehr sie auch mit praktischen Funktionalitäten ausgestattet sein mag, lediglich einen „Möglichkeitsraum“ für die Lernenden darstellt. Die tatsächliche Ausgestaltung des sozialen Miteinanders obliegt letztlich den Studierenden selbst. Der indirekte Ansatz zur Stärkung dieses sozialen Miteinanders funktioniert nur, wenn die Studierenden einen Mehrwert in der sozialen Interaktion und dem gemeinsamen Lernen sehen. Erst dann kann es aus dem Potenzial einer Lernumgebung auch zwischenmenschliches „Kapital“ geschlagen werden.
In Folgestudien muss nun noch genauer erörtert werden, welche „sozialen“ Funktionalitäten denn tatsächlich von Studierenden genutzt werden und ob sie auch tatsächlich die gewünschten Effekte hervorrufen. Wir halten Sie auf dem Laufenden
Quellen:
- Short, J. A., Williams, E., & Christie, B. (1976). The social psychology of telecommunications. London: Wiley.
- Lowenthal, P. R. (2009). The Evolution andInfluence of Social Presence Theory on Online Learning. Social Computing: Concepts, Methodologies, Tools, and Applications: Concepts, Methodologies, Tools, and Applications, 113.
- Cui, G., Lockee, B., & Meng, C. (2013). Building modern online social presence: A review of social presence theory and its instructional design implications for future trends. Education and information technologies, 18(4), 661-685.
- Kreijns, K., Van Acker, F., Vermeulen, M., & Van Buuren, H. (2014). Community of Inquiry: social presence revisited. E-Learning and Digital Media, 11(1), 5-18.
- Weidlich, J., & Bastiaens, T. J. (2017). Explaining social presence and the quality of online learning with the SIPS model. Computers in Human Behavior, 72, 479-487.